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Testbericht: Alice - Madness Returns

29. 06. 2011 | Kategorie: Testberichte

Schlappe zehn Jahre nach dem letzten virtuellen Ausflug ins gar nicht so wunderbare Wunderland versieht Electronic Arts die Fans mit einem heiß herbeigesehnten Nachfolger zu American McGee‘s Alice. Wetzt das Messer, richtet die Haare und zupft das Röckchen zurecht: die Reise in die düstere Welt eines wahnsinnigen Mädchens beginnt!

Screenshot: Alice: Madness ReturnsAuf Basis der Wunderland-Mythologie der beiden Lewis Carrol Kinderbücher Alice im Wunderland (1865) und Alice hinter den Spiegeln (1871) sind insbesondere in den letzten Jahren unzählige Projekte ins Rollen gekommen – wenige von ihnen wurden tatsächlich realisiert. Genannt sei hier unter anderem die Verfilmung der genialen Videospiel-Vorlage von American McGee aus dem Jahr 2001, von der bis dato nichts zu sehen oder zu hören ist. Auch Marilyn Manson plante eine Dekade lang eine filmische „Biographie“ von Lewis Carrol – dem insbesondere in Bezug zu seinen beiden Alice-Büchern der Konsum von sinnesvernebelnden Substanzen nachgesagt wird – ehe die Idee dieses Gothic-Horror-Projekts auf Eis gelegt wurde. Im letzten Jahr erschien Tim Burtons Alice im Wunderland Interpretation – eine dem für skurrile Filme bekannten Regisseur spürbar unwürdige Präsentation.

Nun, 2011, erscheint Alice – Madness Returns als direkte Fortsetzung des Videospiels von American McGee. Zehn Jahre sind auch in der Spielwelt verstrichen, Alice Liddell wurde aus der Irrenanstalt Rutledge entlassen und lebt nun in einem Waisenhaus. Die traumatischen Erlebnisse um den Tod ihrer Eltern und der Schwester in einem Hausbrand, hat sie nach wie vor nicht vollständig verarbeiten können – sie gibt sich selbst die Schuld an dem Inferno. Der Psychiater Dr. Bumby versucht, ihr diesen Gedanken auszutreiben, sie dazu zu bringen, das Geschehene zu vergessen. Auf dem Weg, sich die verschriebenen Tabletten abzuholen folgt sie einer weißen Katze durch die Londoner Gassen und trifft unverhofft auf eine frühere Krankenschwester aus Rutledge – die Begegnung ruft eine Vision in ihr hervor und sie fällt zurück ins Wunderland. Der Ort, in dem sie zehn Jahre zuvor die Herzkönigin besiegte, ist seitdem verfallen – zusammen mit der Grinsekatze schickt sich Alice auf die Suche nach dem verrückten Hutmacher an, der Genaueres über diesen Zustand wissen soll. Auf ihrer Reise ins Innerste ihres Selbst findet sie dabei nicht nur Antworten auf die offensichtliche Veränderung des Wunderlands, sondern erinnert sich auch an die Geschehnisse um den Tod ihrer Familie.

Screenshot: Alice: Madness ReturnsIn klassischer Third-Person-Ansicht steuert der Spieler Alice durch ihre von Traumata geprägte Gedankenwelt und in kurzen Passagen durch das London des 19. Jahrhunderts. Dabei beeinflussen sich beide Welten gegenseitig – ein von äußeren Einflüssen geweckter Gedanke ändert das Erscheinungsbild des Wunderlands, aus dem sie andererseits Rückschlüsse auf die Vergangenheit in der realen Welt ziehen kann. Auf der Suche nach der Wahrheit der Ereignisse in der Nacht des Brandes stößt Alice dabei auf längst verdrängte Gedanken, die den Lauf der Geschehnisse in gänzlich neues Licht tauchen. Dabei verschmelzen Realität und Einbildung zunehmend – auch der Spieler wird so in ein surreales Bild der Selbstwahrnehmung gesogen.

Die beiden Welten werden dabei höchst kontrastreich präsentiert. Während London zeittypisch eher dreckig und farblos erscheint und sich die dort lebenden Menschen auf kafkaeske Art körperlich unproportioniert zeigen, blüht das Wunderland in kräftigen und bunten Farben auf. Zunächst, wohlgemerkt. Denn schon bald färbt sich der schöne Bach rot, die satt beblätterten Bäume weichen trostlosen Rindengerippen und fester Boden unter den Füßen wird zunehmend rarer. Die Darstellung der in den sechs Kapiteln unterschiedlichen Themenwelten ist eine Klasse für sich und der besondere Reiz an Alice – Madness Returns – ähnlich wie im Vorgänger.

Screenshot: Alice: Madness ReturnsIm Vorgänger wurde auch deutlich, dass sich American McGees Alice-Interpretation ausdrücklich von der Walt Disney Variation unterscheidet. Zunächst nur mit einem Messer, der Vapor Klinge, bewaffnet, findet sie nachher auch andere abgefahrene Gegenstände, mit deren Hilfe sie sich gegen schleimige Monster mit Puppenköpfen, Samurai-Wespen oder Teekannen zur Wehr setzen muss. Seien es die Pfeffermühle als Maschinengewehrpendant, die Teekanne als Granatwerfer oder das Steckenpferd als besonders starke aber träge Nahkampfwaffe – alle Utensilien finden im richtigen Moment Anwendung und lassen sich während des Spielverlaufs aufwerten. Dazu müssen eingesammelte Zähne investiert werden, die Alice auf ihrem von vielen Hüpfpassagen erschwerten Weg durch das Wunderland findet. Denn tatsächlich ist Madness Returns vielmehr ein Hybrid aus Jump’n’Run und Hack and Slay, denn ein reinrassiges Action-Adventure – wirkliche Rätsel gibt es hier kaum. Falls aber mal doch ein Umweg gefunden werden muss, kann sich Alice per Tastendruck schrumpfen, um durch Schlüssellöcher zu kriechen oder mit einem dann ausgelösten speziellen Sinn zuvor unsichtbare Hinweise und Podeste sichtbar zu machen.

Die Handlung wird mittels hervorragenden, nostalgischen 2D-Videosequenzen erzählt, in denen die Charakteristika der Figuren in seltsame Hampelmann-Figuren übertragen wurden; für die Atmosphäre ein weiterer klarer Pluspunkt. Weiterhin werden Videos in Spielegrafik genutzt, doch bleibt hier, wie auch im Spielgeschehen, die verwendete Unreal-3-Engine an so mancher Passage deutlich hinter ihrer Leistungsfähigkeit zurück – oder frei raus: ist einfach potthässlich. So scheinen einige verwendete Texturen noch vom Vorgänger zu stammen, Übergänge der Texturen sind nicht selten deutlich zu erkennen und plötzlich abbrechende Animationen treten verhältnismäßig häufig auf. Zudem vermögen es einige Ingame-Videos nicht, einen flüssigen Übergang zwischen den Levels zu präsentieren – zu oft endete ein Spielabschnitt mit einer Sequenz, ohne dass diese beim Start des nächsten fortgeführt wurde. Was dazu führt, dass der handlungsrelevante Hintergrund der neuen Umgebung und Zielstellung oftmals in Frage gestellt werden. Nicht gravierend schlimm, aber unschön, unzeitgemäß und ein klares Indiz dafür, dass die Entwickler am Ende wohl ziemlich in Zeitnot waren.

Screenshot: Alice: Madness ReturnsZeit ist wohl auch das, was der Spieler braucht um die mehrdeutige Abschlusssequenz von Madness Returns zu erreichen: zwischen 15 und 20 Stunden sind trotz des durchweg flüssigen Spielfortschritts einzuplanen. Gemessen an der durchschnittlichen Spieldauer von 8 bis 10 Stunden aktueller Titel erscheint dies außergewöhnlich großzügig, doch der Schein trügt. Denn tatsächlich ist Madness Returns ein höchst repetitives Spiel, dem deutliche Kürzungen  gut getan hätten. Nicht oft kommt es heutzutage vor, dass man sich das Ende herbei sehnt, weil man glaubt schon alles gesehen zu haben – Entwickler Spicy Horse hat es geschafft. Trotz des wahrlich faszinierenden Konzepts und der meist guten Ideen in den zahlreichen Minispielen führen deren Wiederholungen in zu kurzen Zeiträumen zum ein oder anderen Kopfschütteln. So mag eine 2D-Jump’n’Run‘-Sequenz beim ersten Durchlauf noch innovativ erscheinenden, doch wird diese spätestens beim dritten Mal langweilig. Schachspiel, Space Invaders unter Wasser oder Guitar Hero an der Orgel sind gelungene Einschübe, wollen sich aber nicht flüssig ins Spielgeschehen eingliedern. Hinzu kommt eine Little Big Planet-Anleihe im vorletzten Kapitel, in der statt eines Sackboys ein Puppenkopf bewegt werden soll, mit der es sich die Entwickler wohl auch beim wohlwollendsten Spieler verscherzen: Physikspielereien, die nicht funktionieren, sollte man tunlichst sein lassen, liebe Entwickler.

Nicht nur an Abwechslung mangelt es, auch eine straff und interessant erzählte Geschichte sieht anders aus. Keine Frage, die Handlung ist interessant, doch werden speziell in Kapitel 2 und 3 Längen bemerkbar, die gar nicht hätten sein müssen – rein erzählerisch kann über deren Sinn und Unsinn diskutiert werden. Wirklich spannend wird es nach dem Durchhänger nämlich erst mit dem vierten Kapitel wieder, wenn sich Alice auf die Suche nach der Herzkönigin begibt. Mit diesem Abschnitt steigt die Qualität des Leveldesigns nach den beiden vorhergehenden in neue Sphären empor. Der wohl beste Level von Madness Returns dient dabei als Einleitung in den reizvollen Teil des Spiels: in abnormer Höhe hüpft Alice über die zahlreichen herumfliegende Spielkarten von Kartenhaus zu Kartenhaus, bevor es ins bedrohlich schaurige Reich der Königin und den Kampf gegen Zombie-Spielkarten geht.

Screenshot: Alice: Madness ReturnsEine besondere Erwähnung verdient zum Schluss die völlig misslungene Kameraführung – für Third-Person-Spiele leider nicht allzu ungewöhnlich, hier aber sogar in die Spielmechanik mit eingebunden. Zu gerne schwenkt die Kamera auf den Ort, an dem soeben eine Türe auf Zeit geöffnet wurde, nur um sich dann wieder elendig langsam zurück zu bewegen – Zeitverlust. Auch schön: während solcher Schwenks ist Alice angreif- und verwundbar – eine weitere Erläuterung ist an dieser Stelle unnötig. Ja, es kommt vor. Sprünge auf Jump-Pads sorgen oftmals für die sonderbare Einstellung, bei der sich die Kamera vor die Spielfigur bewegt – Abgrund, hallo. Eine Taste zum automatischen Zielen gibt es, doch ist diese nur bei ein bis zwei anwesenden Gegnern sinnvoll, denn ein gut funktionierendes Wechseln zwischen den Feinden ist nahezu ausgeschlossen. Noch schlimmer: genau diesen Sachverhalt nutzt das Spiel, um den Schwierigkeitsgrad künstlich in die Höhe zu treiben. Nun wird beispielsweise ein schwerer Gegner gespawnt, der nicht aktiv von anderen anwesenden Angreifern geschützt wird. Da Alice aber stets auf einen der anderen Streitsucher zielt, ist eine Zielerfassung Glücksache. Überforderung statt Herausforderung.

Fazit:
Geduld ist angesagt bei Madness Returns! Auf satte 15 bis 20 Stunden Spieldauer bringt es Alice bei ihrem neuen Ausflug ins Wunderland, doch wird erst die zweite Hälfte so richtig interessant. Zwar kann auch hier nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass die Spielmechanik unausgegoren ist, die Grafik vor Hässlichkeiten nur so strotzt, die Kameraführung häufig einer mittleren Katastrophe nahe kommt und die teils innovativen Minispiele ständig wiederholt werden, doch sind Leveldesign und Atmosphäre spätestens ab hier einfach nur großartig. In die großen Fußstapfen des Vorgängers kann Madness Returns trotz des grandiosen Artdesigns und der guten Ansätze allerdings nicht treten. – Tobias Czullay

Wertung: 6 / 10

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